8. Mai 2020, 75. Jahrestag der Befreiung

Gedenken auf dem Sowjetischen Ehrenfriedhof / Stadtratsvorsitzender Roland Striegel

Sehr verehrte Anwesende,
ich bin von Herzen dankbar für das heutige Gedenken hier auf diesem Ehrenfriedhof.

Der Vorsitzende des Merseburger Stadtrates Roland Striegel bei seiner Ansprache

In unserem gemeinsamen Gedenken darf ich mich stützen auf die stark beachtete Rede Richard von Weizsäckers vor dem Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985. Zu diesem Zeitpunkt, 40 Jahre nach Kriegsende, war Deutschland, als Folge des Krieges, noch auf unabsehbare Zeit geteilt. Heute, inzwischen 30 Jahre nach der Wiedererlangung staatlicher Einheit, gilt das Wesentliche des 1985 Gesagten fort. Ich zitiere:

„Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.“

Danach fuhr von Weizsäcker fort: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“ (Ende des Zitats)

Und wieder ein paar Sätze weiter sprach der damalige Bundespräsident aus, was bis dato in der Bundesrepublik Deutschland ganz und gar nicht als selbstverständlich galt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ (Zitatende)

Ein Krieg, dessen Ende nunmehr 75 Jahre zurückliegt, ein Krieg, den ich selbst nicht erleben musste, der aber für meine Eltern und meine 6 Geschwister die Vertreibung aus ihrer Heimat zur Folge hatte. Dieser 2. Weltkrieg bedeutete – für mich 1954 Geborenen und umso mehr für die nachfolgende Generation – dieser Krieg bedeutete eine notwendige und schmerzhafte, bis heute andauernde Aufgabe: „Sich-erinnern-lassen“. Mindestens im Schulunterricht, durch selbstgewählte Bücher, durch Filme, bestenfalls durch überlebende Zeitzeugen.
„Sich-erinnern-lassen“ an vielfältiges, von Menschen zielgerichtet verursachtes Leid.
„Sich-erinnern-lassen“ an ebenso vielfältiges von Menschen ertragenes Leid.

Ich zitiere erneut von Weizsäcker: „Hitler wollte die Herrschaft über Europa, und zwar durch Krieg. Den Anlass dafür suchte und fand er in Polen. Am 23. Mai 1939 […] erklärte er vor der deutschen Generalität: ´Weitere Erfolge können ohne Blutvergießen nicht mehr errungen werden… Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung… Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen, und bleibt der Entschluss, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen… Hierbei spielen Recht oder Unrecht der Verträge keine Rolle.´“ (Zitatende)

Was danach, insbesondere seit dem 1. September 1939 passierte, ist uns Anwesenden geläufig. Ich will dennoch kurz erinnern an solche Gräueltaten wie die Bombardierung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe oder die Einkesselung und Aushungerung Leningrads durch die Wehrmacht. Ich muss auch erinnern an die parallel zum Krieg weiter fortschreitende Erniedrigung vor allem jüdischer Menschen – bis hin zu ihrer systematischen, „perfekt-deutschen“ industriellen Ausrottung.

Mit dem Verlauf des Krieges zeigte sich immer deutlicher, dass der Lebenswille und die Einheit der menschlichen Völker noch größer war als die großdeutsche Überheblichkeit. Der Krieg kehrte nach verlustreichen Schlachten schließlich an seine Ausgangsorte zurück. Die ersten Bombardierungen der benachbarten Industrieanlagen sowie Merseburgs selbst, sowie danach unserer großen Nachbarstädte Magdeburg und Dresden im Winter 1945 waren ein Menetekel. Sie verwiesen bereits auf die nachfolgende bedingungslose Kapitulation Deutschlands am 8. Mai.

Nur wenige Tage zuvor, am 15. April 1945, wurde unsere Heimatstadt Merseburg von alliierten Truppen, konkret: von amerikanischen Panzerverbänden, trotz letztem und sinnlosem Widerstand eingenommen, das heißt besetzt. Dies wurde von vielen der hier lebenden Menschen als militärische aber auch als individuelle Niederlage empfunden. Man nannte es lange euphemistisch „Zusammenbruch“. –  Es handelte sich aber vielmehr um das von vielen anderen ersehnte Ende einer in ihren Ausmaßen unvergleichlichen zivilisatorischen Tragödie.

Verehrte Anwesende,
von Weizsäcker fuhr in seiner Rede fort: „Es gab [und er meint die ganze Zeit des Nationalsozialismus] viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben.
Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich. Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewusstsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.“
(Zitatende)

Hier auf diesem Friedhof liegen Soldaten beider Weltkriege begraben. Soldaten, denen wir als menschliche Wesen unseren Respekt schulden! An diesem Tag vor allem für die Befreiung von einer menschenverachtenden Tyrannei, die ganz gewiss alles andere war als ein harmloser „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“.

Ich persönlich fremdele mit dem Begriff soldatischen Heldentums. Ich selbst musste in der DDR 18 Monate lang unfreiwillig Volksarmist sein. Mit der Wende führte einer meiner ersten Wege zum Wehrkreiskommando, um mich endlich als Wehrdienstverweigerer registrieren zu lassen. Unbeschadet meines christlichen Pazifismus bin ich fest überzeugt, unter den toten Soldaten hier finden sich viele großartige Menschen, wahrscheinlich aber ebenso schuldhaft in Kriegs- und Nachkriegshandlungen verstrickte, ganz verletzliche Menschen „wie du und ich“. Letztlich liegen hier wohl weniger Helden, meist jedoch in die Schlachten getriebene junge Leben. Vor allem liegen hier Opfer, Geopferte. Von ihren liebsten Angehörigen und Freunden schmerzhaft betrauert – und dies meist wohl nur aus der unüberbrückbaren Distanz ihrer jeweiligen fernen Heimat. – Ihnen gilt unsere Verneigung!

Sehr geehrter Herr Eißner,
ich danke seitens des Stadtrates Merseburg sowie der Merseburgerinnen und Merseburger Ihnen und der Geschichtswerkstatt Merseburg-Saalekreis für die Vorbereitung des heutigen Gedenkens.

Verehrte Anwesende,
ich möchte zum Abschluss noch einmal von Weizsäcker zitieren: „Wir können des 8. Mai nicht gedenken, ohne uns bewusstzumachen, welche Überwindung die Bereitschaft zur Aussöhnung den ehemaligen Feinden abverlangte.“ (Zitatende)

Lassen Sie uns deshalb an diesem Tag des Erinnerns das großartige Geschenk der Befreiung hochhalten und einen bereits 75 Jahre währenden Friedens tagtäglich schätzen!
Lassen Sie uns – angesichts der uns umgebenden Gräber – lassen Sie uns jede Nation, so auch unsere eigene deutsche Nation von Herzen achten!
Lassen Sie uns in Deutschland, trotz mancher gegenwärtiger alltäglicher Sorgen, immer wieder vor allem eines für seine Menschen suchen: Einigkeit und Recht und Freiheit!
Und lassen Sie uns stets den friedlichen Ausgleich mit unseren europäischen Nachbarn anstreben, auf dass wirklich die Sonne schön wie nie über Deutschland, ja letztlich über unserem gemeinsamen Haus Europa scheine! Über einem europäischen Haus – und wie ich meine: einschließlich Russlands.

Dies möge unsere Verantwortung sein. Ich danke Ihnen.
Roland Striegel

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