Gedenkveranstaltung 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der NS-Herrschaft am 8. Mai 2020 auf dem Sowjetischen Ehrenfriedhof in Merseburg-Süd mit Ansprachen von:
Sehr geehrte Damen und Herren – ein Name ist Dietmar Eißner, ich bin Mitglied des Vereins Geschichtswerkstatt Merseburg – Saalekreis e.V. und des Merseburger Altstadtvereins.
Dietmar Eißner
Wir haben heute diese Gedenkveranstaltung hier organisiert unter außergewöhnlichen Umständen. Ich danke Ihnen, dass Sie sich der erforderlichen Anmeldprozedur unterzogen haben und auch bereit sind, mit uns die verhängten Auflagen einzuhalten.
In der anhaltenden Corona-Krise wird mittlerweile oft Bezug genommen zum letzten Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, dessen Ausgang am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands besiegelt wurde. Und doch ist die gegenwärtige Krise keineswegs vergleichbar mit dem Krieg und der Gewaltherrschaft, die vor 75 Jahren ein Ende fanden.
Es waren nicht wir Deutschen selbst, die Gewaltherrschaft und Krieg aus eigener Kraft abschütteln konnten – im Gegenteil. Bis zuletzt kämpften fanatisierte Jungen und auch Mädchen in den Flakstellungen der Region und versuchten die anrückenden amerikanischen Panzer aufzuhalten.
Wir Deutschen wurden befreit, und wir mussten befreit werden, da wir selbst nicht den Blick und den Mut hatten, eine Diktatur abzuschütteln, die wir 12 Jahre zuvor durch demokratische Wahlen selbst an die Macht gebracht hatten.
Und so stehen wir heute hier auf diesem Friedhof und an diesem Denkmal, um Dank zu sagen:
Dank den Soldaten der Sowjetarmee und ihren Offizieren, denen wir diese – unsere – Befreiung in erster Linie zu verdanken haben.
Dank den Soldaten der anderen alliierten Armeen, vor allem Engländern und Amerikanern, die Stadt und Landkreis Merseburg bereits am 15. April 1945 befreit hatten
Dank aber auch den aktiven und stillen Widerstandskämpfern, die sich vom NS-Regime nicht beugen ließen und dafür ihr Leben lassen mussten, und hier denke ich besonders an die Merseburgerin Margarete Bothe, die noch am 12. April 45 von Gestapo erschossen wurde
Das Gedenken an die Widerstandkämpfer der NS-Zeit ist ja hier an diesem Ort auch präsent durch die Namenstafeln von 8 Konzentrationslagern im hinteren Teil des Friedhofes.
KZ-Gedenksteine
Verehrte Damen und Herren, wir stehen hier an einem Ort, der nicht nur die sterblichen Überreste von Opfern des 2.WK enthält, sondern dessen Ursprung auf das Jahr 1917 zurückgeht. Vor den Toren dieses Friedhofes, dort gegenüber wo jetzt die Gartenanlage Pappelallee ist, befand sich ein Lager mit Gefangenen des 1.WK. Insgesamt 40.000 passierten dieses Lager von 1914 bis zum Kriegsende, wovon über 900 hier in Merseburg starben. Jeder Todesfall wurde in den Sterbebüchern des Merseburger Standesamtes dokumentiert, so dass wir 230 Bestattungen aus diesem Lager auf dem Stadtfriedhof namentlich nachweisen können.
Die dortige Kriegsgräberstätte wurde durch Initiative des Altstadtvereins dem Vergessen entrissen, wartet aber immer noch auf Ihre Wiederweihe. Weil der Merseburger Stadtfriedhof zu klein wurde, musste hier dieses Gräberfeld angelegt werden – nur für ausländische Militärangehörige – insgesamt etwa 700 wurden von Mitte 1917 bis Ende 1918 hier bestattet.
Am 15. April 2020 wurden hier gegenüber in der Gartenanlage Pappelallee bei Grabearbeiten plötzlich Grabsteine entdeckt, mit kyrillischen Inschriften und der Jahreszahl 1920. Die MZ berichtete darüber. Die Grabsteine bzw. Bruchstücke wurden vom Friedhofsamt der Stadt Merseburg geborgen und liegen jetzt da vorn rechts am Eingang. Sie wurden vom Denkmalsamt und auch von einem Mitarbeiter des Museums untersucht und anhand von Nummern lassen sich sogar die Personen zuordnen.
Wie kommen nun diese Grabsteine als Baumaterial in die Gartenanlage? Nun das ist eine andere Geschichte – aber mir ist beim Betrachten der Steine noch etwas aufgefallen: Schaut man sich diese geborgenen Grabsteine genau an, so haben sie eine verblüffende Ähnlichkeit mit den hier in der Mitte verlegten und von uns als Gehweg benutzten Sandsteinplatten. Nun wir haben einen Steinmetz zu Rate gezogen und uns die Sache noch mal genau angeguckt – und ich kann Entwarnung geben. Dieser Weg hier zu den Opfern des 2.WK führt also nicht über die Grabmale der Opfer des 1.WK.
Und doch sind für mich beide Kriege hier an diesem Ort präsent und bekräftigen umso mehr den Aufruf – Nie wieder Krieg !
Ulrich von Wrochem
Werte Damen und Herren, wir beenden unsere kurze Zeremonie und legen unsere Blumen und Gebinde ab hier am Denkmal oder auch hier hinten an 8 weiteren Gedenksteinen. Diese Steine tragen die Namen von Konzentrations- und Vernichtungslagern und können nur stellvertretend stehen für die zahllosen Lager dieser Art. Wir lesen dort folgende Namen:
Während wir hier vorbei defilieren wird Herr Ulrich von Wrochem, ehemaliger Solo-Bratschist an der Mailänder Scala, eine Elegie von Igor Stawinsky für Viola Komponiert 1944 zu Gehör bringen
Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme und wünsche dann einen guten Heimweg.
Gedenken auf dem Sowjetischen Ehrenfriedhof / Stadtratsvorsitzender Roland Striegel
Sehr verehrte Anwesende, ich bin von Herzen dankbar für das heutige Gedenken hier auf diesem Ehrenfriedhof.
Der Vorsitzende des Merseburger Stadtrates Roland Striegel bei seiner Ansprache
In unserem gemeinsamen Gedenken darf ich mich stützen auf die stark beachtete Rede Richard von Weizsäckers vor dem Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985. Zu diesem Zeitpunkt, 40 Jahre nach Kriegsende, war Deutschland, als Folge des Krieges, noch auf unabsehbare Zeit geteilt. Heute, inzwischen 30 Jahre nach der Wiedererlangung staatlicher Einheit, gilt das Wesentliche des 1985 Gesagten fort. Ich zitiere:
„Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.“
Danach fuhr von Weizsäcker fort:„Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“ (Ende des Zitats)
Und wieder ein paar Sätze weiter sprach der damalige Bundespräsident aus, was bis dato in der Bundesrepublik Deutschland ganz und gar nicht als selbstverständlich galt: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ (Zitatende)
Ein Krieg, dessen Ende nunmehr 75 Jahre zurückliegt, ein Krieg, den ich selbst nicht erleben musste, der aber für meine Eltern und meine 6 Geschwister die Vertreibung aus ihrer Heimat zur Folge hatte. Dieser 2. Weltkrieg bedeutete – für mich 1954 Geborenen und umso mehr für die nachfolgende Generation – dieser Krieg bedeutete eine notwendige und schmerzhafte, bis heute andauernde Aufgabe: „Sich-erinnern-lassen“. Mindestens im Schulunterricht, durch selbstgewählte Bücher, durch Filme, bestenfalls durch überlebende Zeitzeugen. „Sich-erinnern-lassen“ an vielfältiges, von Menschen zielgerichtet verursachtes Leid. „Sich-erinnern-lassen“ an ebenso vielfältiges von Menschen ertragenes Leid.
Ich zitiere erneut von Weizsäcker: „Hitler wollte die Herrschaft über Europa, und zwar durch Krieg. Den Anlass dafür suchte und fand er in Polen. Am 23. Mai 1939 […] erklärte er vor der deutschen Generalität: ´Weitere Erfolge können ohne Blutvergießen nicht mehr errungen werden… Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung… Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen, und bleibt der Entschluss, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen… Hierbei spielen Recht oder Unrecht der Verträge keine Rolle.´“ (Zitatende)
Was danach, insbesondere seit dem 1. September 1939 passierte, ist uns Anwesenden geläufig. Ich will dennoch kurz erinnern an solche Gräueltaten wie die Bombardierung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe oder die Einkesselung und Aushungerung Leningrads durch die Wehrmacht. Ich muss auch erinnern an die parallel zum Krieg weiter fortschreitende Erniedrigung vor allem jüdischer Menschen – bis hin zu ihrer systematischen, „perfekt-deutschen“ industriellen Ausrottung.
Mit dem Verlauf des Krieges zeigte sich immer deutlicher, dass der Lebenswille und die Einheit der menschlichen Völker noch größer war als die großdeutsche Überheblichkeit. Der Krieg kehrte nach verlustreichen Schlachten schließlich an seine Ausgangsorte zurück. Die ersten Bombardierungen der benachbarten Industrieanlagen sowie Merseburgs selbst, sowie danach unserer großen Nachbarstädte Magdeburg und Dresden im Winter 1945 waren ein Menetekel. Sie verwiesen bereits auf die nachfolgende bedingungslose Kapitulation Deutschlands am 8. Mai.
Nur wenige Tage zuvor, am 15. April 1945, wurde unsere Heimatstadt Merseburg von alliierten Truppen, konkret: von amerikanischen Panzerverbänden, trotz letztem und sinnlosem Widerstand eingenommen, das heißt besetzt. Dies wurde von vielen der hier lebenden Menschen als militärische aber auch als individuelle Niederlage empfunden. Man nannte es lange euphemistisch „Zusammenbruch“. – Es handelte sich aber vielmehr um das von vielen anderen ersehnte Ende einer in ihren Ausmaßen unvergleichlichen zivilisatorischen Tragödie.
Verehrte Anwesende, von Weizsäcker fuhr in seiner Rede fort: „Es gab [und er meint die ganze Zeit des Nationalsozialismus] viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben. Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich. Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewusstsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.“ (Zitatende)
Hier auf diesem Friedhof liegen Soldaten beider Weltkriege begraben. Soldaten, denen wir als menschliche Wesen unseren Respekt schulden! An diesem Tag vor allem für die Befreiung von einer menschenverachtenden Tyrannei, die ganz gewiss alles andere war als ein harmloser „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“.
Ich persönlich fremdele mit dem Begriff soldatischen Heldentums. Ich selbst musste in der DDR 18 Monate lang unfreiwillig Volksarmist sein. Mit der Wende führte einer meiner ersten Wege zum Wehrkreiskommando, um mich endlich als Wehrdienstverweigerer registrieren zu lassen. Unbeschadet meines christlichen Pazifismus bin ich fest überzeugt, unter den toten Soldaten hier finden sich viele großartige Menschen, wahrscheinlich aber ebenso schuldhaft in Kriegs- und Nachkriegshandlungen verstrickte, ganz verletzliche Menschen „wie du und ich“. Letztlich liegen hier wohl weniger Helden, meist jedoch in die Schlachten getriebene junge Leben. Vor allem liegen hier Opfer, Geopferte. Von ihren liebsten Angehörigen und Freunden schmerzhaft betrauert – und dies meist wohl nur aus der unüberbrückbaren Distanz ihrer jeweiligen fernen Heimat. – Ihnen gilt unsere Verneigung!
Sehr geehrter Herr Eißner, ich danke seitens des Stadtrates Merseburg sowie der Merseburgerinnen und Merseburger Ihnen und der Geschichtswerkstatt Merseburg-Saalekreis für die Vorbereitung des heutigen Gedenkens.
Verehrte Anwesende, ich möchte zum Abschluss noch einmal von Weizsäcker zitieren: „Wir können des 8. Mai nicht gedenken, ohne uns bewusstzumachen, welche Überwindung die Bereitschaft zur Aussöhnung den ehemaligen Feinden abverlangte.“ (Zitatende)
Lassen Sie uns deshalb an diesem Tag des Erinnerns das großartige Geschenk der Befreiung hochhalten und einen bereits 75 Jahre währenden Friedens tagtäglich schätzen! Lassen Sie uns – angesichts der uns umgebenden Gräber – lassen Sie uns jede Nation, so auch unsere eigene deutsche Nation von Herzen achten! Lassen Sie uns in Deutschland, trotz mancher gegenwärtiger alltäglicher Sorgen, immer wieder vor allem eines für seine Menschen suchen: Einigkeit und Recht und Freiheit! Und lassen Sie uns stets den friedlichen Ausgleich mit unseren europäischen Nachbarn anstreben, auf dass wirklich die Sonne schön wie nie über Deutschland, ja letztlich über unserem gemeinsamen Haus Europa scheine! Über einem europäischen Haus – und wie ich meine: einschließlich Russlands.
Dies möge unsere Verantwortung sein. Ich danke Ihnen. Roland Striegel